Nachbericht zur #idt20 „Wie verändern digitale Medien unser Erinnern?”

Wie verändern digitale Medien unser Erinnern? Wie können wir bei der Fülle an Informationen vergessen? Und wie verändern digitale Erinnerungskulturen die Identitätsarbeit von Kindern und Jugendlichen?

Diese Fragen standen im Fokus der 16. Interdisziplinären Tagung vom 25.- 27. November 2020, die in diesem Jahr zum ersten Mal online stattgefunden hat. Insgesamt etwa 150 Personen folgten den Ausführungen der Expert*innen im Konferenztool oder via Livestream, die sich mithilfe unterschiedlicher Ansätze der Frage annäherten, was Augmented-Reality, künstliche Intelligenz und die unglaubliche Menge an digitalen Daten für das Erinnern von Menschen bedeuten. Um Schlussfolgerungen für die Bildungspraxis und Medienaufsicht abzuleiten, wurden Medien dabei vor allem als Träger und Vermittler kollektiver wie individueller Erinnerungen genauer beleuchtet.
Dass Medien auf vielfältige Weise mit individuellen und kommunikativen Erinnerungen wie auch mit dem kulturellen Gedächtnis verbunden sind, ist unumstritten. Dabei wird Geschichte inzwischen immer häufiger ein alltäglicher Bestandteil der Gegenwart, die Abstände zwischen Ereignis und Erinnerung werden kürzer. Angebote wie Augmented-Reality gehen sogar noch weiter und machen geschichtliche Erinnerungsorte (gefühlt) unmittelbar erfahrbar. Es eröffnen sich neue Erinnerungsräume, die nicht mehr allein an reale Erinnerungsorte gebunden bleiben und der Zugang zur Vergangenheit verändert sich. Welche Folgen sich daraus für die Entwicklungsarbeit für Kinder und Jugendliche ergeben, wurde aus der Perspektive unterschiedlicher Disziplinen diskutiert.
Die Tagung wurde auch dieses Jahr vom Bayerischen Staatsministerium für Familie, Arbeit und Soziales (StMAS) gefördert. 

Begrüßt wurden die Teilnehmenden am erste Veranstaltungstag durch die Bayerische Staatssekretärin für Familie, Arbeit und Soziales, Carolina Trautner. Sie betonte den Wert geteilter Erinnerungen. “Dank Messenger-Apps und Social Media scheinen heute die Möglichkeiten unbegrenzt zu sein, unsere Bilder und unsere Erinnerungen mit den Menschen zu teilen, mit denen wir sie teilen wollen.” Gleichzeitig wies Frau Trautner darauf hin, dass digital geteilte Erinnerungen im Internet nicht vergessen würden, weshalb es wichtig sei, sich mit den Folgen digitaler Erinnerungskulturen auseinanderzusetzen.

Siegfried Schneider, Präsidenten der BLM, betonte in seinem Grußwort die Bedeutung der Medien als “Tor zur Welt”, gerade in Krisenzeiten wie der aktuellen Pandemie. Um die Potentiale digitaler Medien nutzen zu können, sei jedoch ein kompetenter Medienumgang relevant. Medienpädagogische Angebote unterstützten diesen Anspruch mit dem Ziel, “verantwortungsbewusstes und selbstbestimmtes Medienhandeln von Heranwachsenden und Kindern zu fördern.”

Auch Prof. Dr. Frank Fischer, Vorsitzender des JFF e. V., hieß die Tagungsteilnehmenden willkommen. Er hob die Verknüpfung kollektiver mit individuellen Erinnerungsaspekten hervor, die auch für das Lernen “als Prozess, mit dem Erinnerungen generiert werden,” relevant sei. Digitale Medien eröffneten dabei neue Formen sozialer Praktiken und (Medien-)Aktivitäten. 
Daneben wies Fischer darauf hin: “Ohne Erinnern gibt es keine menschliche Identität.” Es stellten sich daher die Fragen, wie sich Identität unter neuen Bedingungen digitaler Praktiken verändere und welche Rolle Künstliche Intelligenz und Algorithmen beim Zusammenspiel kollektiver und individueller Erinnerungsebenen, bei der Auswahl und dem Ausgestalten menschlicher Erinnerungen, spielten.

Eine thematische Einführung in (Post)Digitale Erinnerungsräume sowie die Transformation von Erinnerungskultur und Identität gab die Soziologin Dr. Vivien Sommer von der TU Berlin. Dass das private und öffentliche Erinnern an die Vergangenheit mehr denn je in und über soziale Medien geschieht, stellte Dr. Sommer in ihrem Beitrag besonders heraus. Am Beispiel der Social-Media-Kampagne #weremember demonstrierte Sommer postdigitale Aspekte medialer Erinnerungsformen und zeigte damit, dass auch digitale Erinnerungspraktiken unmittelbar an bereits vorhandene Erinnerungsformen anknüpften. So zeichneten sich etwa Zeitzeug*inneninterviews auf Social-Media-Plattformen durch eher klassische Narrationsformen aus. Gleichzeitig erfolge etwa mittels Kommentarfunktion ein sozialer Prozess, der weniger auf die Vermittlung historischer Fakten abziele als vielmehr darauf, “das Erinnern selbst zu aktivieren als eine wichtige gegenwärtige gesellschaftliche Funktion.” Auf diese Weise verschärfe sich die Gegenwartsbezogenheit des Erinnerns. Gleichzeitig führe digitale Kommunikation über Vergangenheit “zu einer medialen Verstärkung von globalen Identitätsangeboten.” Postdigitale Transformationen zeichneten sich so durch eine Annäherung von Raum, Zeit und Identität aus und lösten die Differenzierung zwischen analogen und digitalen Medienformen des Erinnerns zunehmend auf. Soziale Gedächtnisprozesse als “postdigitale Transformationen” befänden sich daher in einem spannungsreichen Wechselspiel zwischen Wandel und Beständigkeit, so Dr. Sommer.

In der anschließenden Diskussionsrunde hatten alle Teilnehmenden die Möglichkeit, sich mit der Expertin und Maximilian Strnad vom Stadtarchiv LH München über die dargebotenen Inhalte und ausgewählten Beispiele auszutauschen. Vor allem die Frage, welche Veränderungen mit den neuen Formen digitaler Geschichtsvermittlung und -aneignung einhergehen, stieß beim Publikum auf großes Interesse, etwa ob der zunehmend unterhaltungsorientierte Ansatz zur Übermittlung historischen Wissens zu einer Trivialisierung von Geschichte beitrage. “Das ist tatsächlich eine Sorge der Expert*innen, die wir auch ernst nehmen sollten”, so Strnad. Gleichzeitig wies er darauf hin, dass jegliche Form der Auseinandersetzung mit Geschichte zunächst grundsätzlich positiv zu werten sei. Hier schlage die Stunde der Pädagog*innen, deren Unterstützung bei der Aneignung von Geschichte im Zuge zahlreicher Angebote besonders relevant sei, um etwa revisionistischen Einstellungen zu begegnen. 

Am zweiten Veranstaltungstag folgten zwei Beiträge zum Erinnern in digitalisierten Welten, die das Thema aus sehr unterschiedlichen Perspektiven beleuchteten. Der Neurobiologe Prof. Dr. Martin Korte von der TU Braunschweig stellte dabei das menschliche Gehirn ins Zentrum seiner Ausführungen. In seinem kurzweiligen Beitrag „Erinnern und Vergessen in digitalen Medien: Warum Vergessen wichtig für das Erinnern ist“ zeigte Prof. Korte, warum die Gedächtnisleistung des Menschen begrenzt ist und Selektivität daher eine notwendige Bedingung des Lernens und Erinnerns sei. Im Zuge der Vielzahl neuer Informationen in sehr kurzer Zeit, die uns gerade im Internet und speziell in sozialen Netzwerken begegneten, leide die Gewichtung von Informationen. Es falle uns schwerer, Wichtiges von Unwichtigem zu unterscheiden. Anhand der Aktivitäten unterschiedlicher Gehirnareale von digital natives und digital immigrants zeigte Prof. Korte die Bedeutung von Wissen und Bildung: “Bildung kann nur dort entstehen, wo man dem eigenen Wissen einen Wert gibt”, so Korte, “je mehr wir über die Welt wissen, desto differenzierter nehmen wir die Welt wahr, desto differenzierter handeln wir.” Im Gegensatz dazu könne die übergroße Daten- und Informationsmenge im Internet dazu führen, das Gehirn zu überfordern und infolgedessen in einfachen Stereotypen zu denken.

Zum Einfluss der künstlichen Intelligenz im Bereich des Erinnerns und Vergessens lieferte der Soziologe Prof. Dr. Stefan Selke von der Hochschule Furtwangen spannende Impulse. In seinem Vortrag “Das beste aller Leben? Künstliche Intelligenz als Kurator menschlicher Erinnerung” beleuchtete er insbesondere die Funktionsweisen und Wirkungen neuartig kuratierender Erinnerungssysteme. Als Beispiel nannte Prof. Selke interaktive Erinnerungs-Avatare, die die Möglichkeit böten, menschliche Erinnerungsfähigkeit zu überformen, Gedächtnisleistungen auszulagern und die eigene Lebensführung zu optimieren. Die “lückenlose Totalerfassung des Lebens” sei schon heute möglich und beflügele den “transhumanistischen Traum”, also “die Überwindung der biologischen Grenzen des Menschen durch Technologien.” Gleichzeitig wies Prof. Selke darauf hin, dass diese “Erinnerungsüberformung durch künstliche Intelligenz” ein perfektes Beispiel für shifting baselines sei, also die schleichende Veränderung normativer Orientierungsrahmen. Die Frage sei in einem solchen Setting: “Wo kann sich der Mensch dann noch selbst erfinden und eine Lebensgeschichte erzählen?”

Anschließend an Selkes Vortrag erfolgte eine lebhafte Diskussion zwischen den beiden Referenten und dem Moderator, Marcus Richter, in der die Teilnehmenden die Möglichkeit hatten, eigene Fragen einzubringen. Von besonderem Interesse waren dabei Fragen nach einem Zuviel an Informationen: Warum falle uns ein angemessener Umgang mit digitalen Erinnerungssystemen noch so schwer und wer entscheide angesichts kommerzieller Internetstrukturen überhaupt darüber, was wichtig sei und was nicht? Prof. Selke wies darauf hin, dass auch Künstliche Intelligenz letztlich ein “von Menschen gemachter Algorithmus” sei, den wir selbst (noch) mitgestalten könnten. Letztlich sei das Aushandeln “zwischen Entlastung und Entmündigung” durch technische Systeme ein sozialer Lernprozess. Prof. Korte verdeutlichte, dass es dabei auch um die Frage ginge, wie viele Kompetenzen wir eigentlich abgeben wollten bei der Antwort auf die Frage, was für das persönliche Erinnern von Bedeutung sei. 

“In Erinnerungen scrollen – Zur Erinnerungsarbeit in sozialen Medien als Teil jugendlicher Identitätsentwicklung”sprach Dr. Michaela Kramer von der FAU Erlangen-Nürnberg in Ihrem gleichnamigen Vortrag am dritten Tagungstag. Die Erziehungswissenschaftlerin zeigte, wie sich durch soziotechnische Veränderungen des Mediums Fotografie, etwa durch das Smartphones und Social-Media-Apps, auch die Bezüge zum Erinnern gewandelt haben. “Es drängt sich der Gedanke auf, dass die digitalen Medienpraktiken vielmehr der Kommunikation, der Unterhaltung und der Selbstdarstellung dienen und viel weniger der Erinnerung.” Damit sei der Gegenwartsbezug von Fotografien häufig von größerer Bedeutung als der Vergangenheitsbezug. Als konkretes Beispiel stellte Kramer eine empirische Studie zur Relevanz aktueller Fotopraktiken Jugendlicher für ihre alltägliche Identitätsarbeit vor und diskutierte das Konzept visueller Biografiearbeit. So sei bei den Befragten ein Vorausdenken späterer Erinnerung zu beobachten, in der Art wie sie aktuelle Erlebnisse mit dem Smartphone dokumentierten. Zugleich werden digitale Fotografien aber auch dazu genutzt, “mit anderen in Kommunikation zu treten und das eigene Geworden-sein zu reflektieren”, so Dr. Kramer. Diese soziale Erinnerungspraxis in sozialen Medien trage dazu bei, Kontinuität zu stiften und “das Einheitsgefühl der Freundschaftsbeziehungen” zu stärken. Die digital-medialen Erinnerungspraktiken der Jugendlichen wiesen mithin ebenso Konstanten wie auch Veränderungen (öffentlicher, häufiger, alltäglicher) zu vorhergehenden Erinnerungspraktiken mit Medien auf. Diese Schlussfolgerung schlug damit wiederum einen Bogen zum Einführungsvortrag von Dr. Sommer. Das Programm wurde durch Breakout-Sessions ergänzt, in denen sich die Tagungsteilnehmenden untereinander über das Zeit- und Raumerleben in digitalisierten Welten, Eindrücke und Fragen aus den Vorträgen sowie konkrete Folgen für die medienpädagogische Praxis austauschen konnten. Eine abschließende Podiumsdiskussion mit gesammelten Fragen aus den Breakout-Sessions vervollständigte die Online-Veranstaltung. Erneut konnten Teilnehmende auch eigene Fragen einbringen, wobei auch medienpädagogische Konsequenzen des Gehörten diskutiert wurden. Es sei eine besondere Aufgabe, auch normative Haltungen gegenüber Erinnerungen, vor allem kollektiven Erinnerungen, medienpädagogisch zu vermitteln, schlussfolgerte Sebastian Ring, medienpädagogischer Referent des JFF. Prof. Selke ergänzte die Notwendigkeit, in Bildungskontexten zu vermitteln, dass algorithmisch generierte Rückblicke und Jahrestage auch tatsächlich als das wahrgenommen werden sollten, was sie sind, nämlich Vorschläge. Dabei wies Dr. Sommer darauf hin, dass auch machtvolle Aushandlungsprozesse in Form kommerzieller Anbieter zunehmend heterogen würden. Insgesamt waren sich die Podiumsteilnehmenden darin einig, dass Erinnerung, ob individuell oder kollektiv, stets ein aktiver Prozess sei, der unter den Bedingungen digitaler Möglichkeiten transformiert und mitunter neu erlernt werden müsse. Dies sei auch Aufgabe der Medienpädagogik.

Dr. Niels Brüggen richtete abschließende Worte an alle Beteiligten, bedankte sich für die Teilnahme und verblieb in der Hoffnung, nächstes Jahr alle wieder vor Ort in der Bayerischen Landesanstalt für neue Medien begrüßen zu dürfen. Obwohl – oder gerade weil – die diesjährige interdisziplinäre Tagung ausschließlich digital stattfinden konnte, werden sich alle mit Sicherheit noch lange daran erinnern.